Hintergrund

Im Oktober 1853 fährt der 17-jährige Hermann Gütlich in den Herbstferien für eine Woche zu seinem Vetter und Weinhändler Georg Wetterhahn, der in Mainz lebt. Zu Beginn seines Aufenthalts in Mainz entdeckt Hermann, dass Georgs Bruder Gustav Kürassier ist [1] beim österreichischen Bundesheer und im norditalienischen Lodi stationiert, hat zwei Pferde in Deutschland gekauft, weil er deren Preis in Italien für viel zu hoch hält. Hermann reizt das Abenteuer, diese Pferde zusammen mit einem Pferdeführer von Mainz zu seinem Vetter Gustav zu bringen und sie dabei auf eine Reise entlang des Rheins, durch die Schweiz und über die Alpen nach Mailand mitzunehmen. Unter Vorspiegelung falscher Tatsachen erhält er über seine Eltern eine Fahrkarte für ganz Europa und macht sich auf den Weg nach Mailand, ohne seine Eltern direkt zu informieren. Aufgrund all der Erfahrungen und Rückschläge dauert die Reise Wochen länger als die zur Verfügung stehenden Herbstferien.

-1- Eine Reise durch die Schweiz nach Mailand (1854)

Bei seiner Rückkehr nach Darmstadt erwartet ihn eine unangenehme Rückkehr, weil er viel zu lange und ohne Erlaubnis von zu Hause weg war; dass er am 17. Oktober den Geburtstag seines Vaters und mehrere Wochen die Schule verpasst habe. Als er an das renommierte Ludwig-Georgs-Gymnasium in Darmstadt zurückkehrt, muss er sich natürlich für seine Abwesenheit erklären. Seine Lehrer können nach dem Erzählen seiner Reisegeschichte ihre Bewunderung für Hermanns Wagemut und Abenteuerlust nicht verbergen, erfinden aber dennoch eine Bestrafung, in der Hermann angewiesen wird, über all dies einen Reisebericht anzufertigen und ihn in der Schule zu präsentieren. Hermann wird das Manuskript seines Reiseberichts nach Gießen bringen, wo er 1854 sein Studium beginnen wird. Nachdem dieses Manuskript bei Lehrern, Freunden und Bekannten von Hand zu Hand ging, sind diese so fasziniert von dieser Geschichte, dass sie Hermann raten, es in Buchform zu veröffentlichen. Daraus entsteht im August 1854 das 96-seitige Heft “Eine Reise durch die Schweiz nach Mailand” (Siehe -1-). 1913 erwähnt der Schriftsteller Karl Esselborn in seiner Fortsetzung, dass dieses Buch damals schon sehr selten war [2]. Das einzig erhaltene Exemplar dieses Buch befindet sich heute im Staatsarchiv in Hermanns Heimatstadt Darmstadt. Das Originalmanuskript und Tagebuch mit Notizen des Reiseberichts sind leider mit der Zeit verloren gegangen ……

-2- Wandervögel von ehedem – Karl Esselborn; (1913)

Als Folge der deutschen Einigung 1871, als die selbstständigen Gerichtsbarkeiten unter Graf Otto von Bismarck in einen Staat umgewandelt wurden, entstand Anfang des 20. Jahrhunderts in Deutschland eine Gegenbewegung, die die lokale bzw. regionale Identität betonen wollte. Dies führt zur Herausgabe der Reihe „Hessische Volksbücher“ in Hessen. Der Regionalhistoriker Karl Esselborn (1879-1940) stellt mehrere Bücher zusammen, darunter 1913 Band 19, in dem er unter dem Titel „Wandervögel von ehedem“ (siehe -2-) Reisegeschichten hessischer Jugendlicher beschreibt, darunter den Reisebericht aus Hermann. Das Besondere an dieser Beschreibung ist die Einleitung, denn Karl Esselborn kommt neben der Tatsache, dass Hermanns genealogische Abstammung aus der Stadt Groß-Gerau bei Darmstadt stammt untersucht und beschreibt, nahm auch Kontakt zu Karl Planz (1836-1917) auf [3],  ein Jugendfreund von Hermann, der in Darmstadt lebt. Dies ermöglichte dem Schriftsteller eine originelle und persönliche Beschreibung des Menschen Hermann, die zu den Gedanken und Taten passt, die Hermann in seinem Reisebericht über sich selbst beschreibt.

-3- Darmstädter Erinnerungen

Hermann ist ein lohnendes Thema für den Schriftsteller Karl Esselborn, weil er sich im Laufe der Jahre in mehreren Veröffentlichungen auf Hermanns Abenteuer bezogen hat. 1924 erscheint das Buch „Darmstädter Erinnerungen: ein Führer durch die Darmstädter Memoirenliteratur“ (siehe -3-), in dem der Schriftsteller noch einmal Hermanns Mut und Abenteuerlust beschreibt, aber auch die Wertschätzung, die Hermanns Lehrer dafür zeigt, indem er ihn nicht bestraft, sondern ermutigt den Reisebericht zu veröffentlichen.

-4- Unter der Diltheykastanie

1929 erschien anlässlich des 300-jährigen Bestehens des Ludwig-Georgs-Gymnasiums in Darmstadt das von Karl Esselborn und Wilhelm Hammann zusammengestellte Buch „Unter der Diltheykastanie, Schulerinnerungen ehemaliger Darmstädter Gymnasiasten – Zur Dreihundertjarfeier des Ludwig-Georgs-Gymnasiums 1629-1929“ (siehe -4-), erscheint, darunter auch Hermanns Schulerinnerungen. Dabei handelt es sich jedoch nicht um seine persönlichen Erinnerungen, sondern es wird auf Hermanns Reisebericht verwiesen, wie er 1913 vom Schriftsteller selbst in dem Buch „Wandervögel von ehedem“ verfasst wurde. Eine kurze Biographie von Hermann und ein spannender Teil seiner Reise, bei der er aufgrund seiner Hybris und Balance zwischen Himmel und Erde einen anderen Weg zur Passhöhe St. Gotthard einschlägt, werden hier veröffentlicht.

Dass Hermanns Reisebericht aus dem Jahr 1854 später im 20. Jahrhundert nicht unbeachtet blieb, geht aus einer Veröffentlichung im Luzerner Landboten [4] hervor vom 4. August 1972 mit dem Artikel «Sursee vor 120 Jahren». Der Text von Hermanns Beschreibung der Stadt Sursee, wie sie während seiner Reise im Oktober 1853 aussah, wird hiermit vollständig veröffentlicht.


[1] Kürassiere waren schwer bewaffnete Kavalleriesoldaten zu Pferd, die einen Brustpanzer namens Kürass trugen. Kürassiere waren die schwerste Einheit auf dem Schlachtfeld. (https://de.wikipedia.org/wiki/Kürassiere)

[2] Hessische Volksbücher Nr. 19, Wandervögel von ehedem, Karl Esselborn; Friedberg, 1913; Seite 92.

[3] https://www.deutsche-gesellschaft-fuer-ordenskunde.de/DGOWP/wp-content/uploads/2016/04/Verleih_Liste_Ehrenkreuz_Philipps-Orden_Adler.pdf

[4] Eine überregional tätige Schweizer Zeitung, die auch regionale Nachrichten verbreitet – www.landbote.ch