9. Andermatt – Bellinzona –  Über den St. Gotthard

Andermatt am Morgen

Heute ist es ruhig in Andermatt. Es ist Montag und alle Partygänger der Jodlerparty sind gegangen, so dass die Dorfstraße, die gestern eine so besondere Atmosphäre ausstrahlte, leer und verlassen ist. Die Schweizer sind für ihre Sauberkeit bekannt und das merkt man hier; es liegt noch kein Stück Papier auf der Straße.

Ich verlasse Andermatt auf dem Weg zum Gipfel des St. Gotthard und weiß, dass es keine Verzögerung mehr gibt. Heute ist es soweit und als ich in die Straße zum nächsten Ort Hospental einbiege spüre ich einen kalten Wind im Gesicht. Endlich keine hohen Temperaturen mehr, aber genug Abkühlung für meine Bemühungen. Nach Hospental erscheint das Schild mit der wichtigen Ankündigung, dass der Gipfel noch 9 Kilometer entfernt ist. Keine Ahnung, was vor mir liegt, aber bei einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 5 km pro Stunde sollte ich in 2 Stunden dort sein.

Es folgen mehrere Haarnadelkurven und das ist ein schlechtes Omen für die Steigung. Ich merke, dass ich alles geben muss, um ein gutes Tempo zu halten. Es ist niemand um mich herum und ich muss es schweigend tun. In schwierigen Momenten ist es nützlich, eine Reihe von Hilfsmitteln zu haben; zum Beispiel Songs mit einem bestimmten Rhythmus, der dem Tempo entspricht, dem Sie folgen möchten. Heute wähle ich „Ride like the wind“ von Christopher Cross und es hilft wunderbar. Ich komme gut durch die Haarnadelkurven und sehe irgendwo in der Ferne einige Windmühlen drehen, die ich auf einem Plateau vermute. Ich benutze sie als Ziel, zu dem ich radle. Die Straße hat sich in eine breite kurvenreiche Schlange verwandelt, die sich entlang der Bergflanke faltet und weil hier neuerdings schöner Asphalt verlegt wurde, „fliege“ ich über die Straße und erreiche die Windmühlen innerhalb einer Stunde.

Das Wappen von Tessin

Als ich nach vorne schaue, steht das Wappen des Kantons Tessin auf einem Stein und die alte Route über den Gotthard liegt vor mir. Diese Straße besteht aus kleinen Steinen und hat daher weniger Grip. Bei schlechtem Wetter ist die Straße sogar gesperrt. Zum Glück ist es jetzt trocken, sodass ich meinen Weg fortsetzen kann. Aber diese alte Straße ist hart und schwer zu erklimmen. Ich brauche viel Energie, um vorwärts zu kommen, auch weil die Straße steiler wird. Meiner Meinung nach beginnt das Gewicht des Gepäcks zu zählen. Regelmäßig fahren Urlauber mit E-Bikes mit hoher Geschwindigkeit vorbei, was mich nicht motiviert. Ich liege ziemlich flach auf meinem Lenker und gebe mein Bestes, merke aber, dass mit einem vollen Gepäck so ein Berg beim Radfahren sehr hart ist und dass dies meine bisher härteste Prüfung im sportlichen Bereich ist. Passanten an Wohnmobilen und Transportern feuern mich mit unverständlichen Ausrufen wie beim alpinen Skifahren an, vorbeifahrende Motorradfahrer geben mir einen Daumen nach oben und auch ein Straßenarbeiter steuert bei: „Schwer, eh?“. Nach einer weiteren Kurve sehe ich plötzlich das „Albergo san Gottardo“ in der Ferne und dann weiß ich es genau; Ich habe es geschafft!

Nach einem Foto unter dem Schild „Gotthardpass 2106 m“ erhole ich mich erst einmal bei einer Tasse Kaffee und merke sofort, dass ich auf der italienischen Seite der Schweiz angekommen bin; Der Standinhaber spricht mich auf Italienisch an. Um mich herum stehen Motorräder, Autos und einige E-Bikes. Einer der E-Biker kommt auf mich zu und lobt mich für meine Leistung. Er schätzt, dass ich einer der Letzten bin, der das ohne E-Bike macht und da muss ich ihm zustimmen. Fast nirgendwo in der Schweiz fahren Urlauber noch mit dem normalen Fahrrad. Instinktiv verleiht dies meiner Leistung noch mehr Glanz, aber die Motivation, dies noch einmal zu tun, ist nicht da.

Val Tremola

Für den Abstieg nach Airolo wähle ich das Val Tremola; eine berüchtigte Straße für ihre Steilheit, bröckelnde Felsbrocken und rutschige Kieselsteine. Ich schätze mich glücklich, dass es trocken ist und ich den spektakulären Abstieg mit seinen vielen kurzen Haarnadelkurven nehmen kann. Die Straße schmiegt sich wie eine hoch aufgerollte Schlange an die Felswand und ist gefährlich steil. Der Weg ist nur durch einige Pfosten und eine kleine Steinreihe getrennt.

Der Abstieg zum nächsten Ort Airolo dauert knapp eine halbe Stunde. Ich beschließe weiterzufahren und sause in einer langen Abfahrt von ca. 5 Stunden weiter nach Bellinzona. Während dieses Abstiegs merke ich, dass dies ein anderer Teil der Schweiz ist. Es ist chaotisch, es liegt viel Müll auf der Straße und es gibt nirgendwo eine Wasserquelle, um meine Wasserflasche aufzufüllen. Und wieder habe ich einen warmen Wind, gegen den der Vorteil einer Abfahrt weitgehend zunichte gemacht wird. Um 4 Uhr nachmittags erreiche ich Bellinzona und verstehe, warum dies eine wichtige Stadt für die historischen Herrscher war. Der schmale Durchgang dieses Tals wurde mit 3 Burgen vollständig gegen Angriffe aus der Schweiz gesperrt. Das hat letztlich nicht geholfen, aber die Burgen halten die Altstadt noch immer in eiserner Klammer. Ich kann das von meinem Hotel im 7. Stock aus gut sehen.

Bellinzona – Die Burgen

Ich merke, dass die heutigen Anstrengungen und das Schreiben des Reiseberichts am Abend allmählich ihren Tribut fordern und möchte daher so schnell wie möglich nach Mailand fahren, um mich auszuruhen. Zum Glück steht morgen die Etappe nach Como auf dem Programm.