So übernachteten wir denn in Straßburg. Da der Zug nach Basel (bzw. St. Louis) erst um elf Uhr abging, so war am nächsten Morgen Zeit genug vorhanden, um die alte Stadt, und namentlich die Thomaskirche und das Münster, in Augenschein zu nehmen. Als ich von der Besichtigung in den „tiefen Keller“ unser Gasthaus, zurückeilte, war es schon lange zehn Uhr vorbei. Ich machte mich rasch reisefertig, empfahl meinem Begleiter, die Pferde sobald wie möglich nachzubringen, und eilte in den Bahnhof voraus, um einstweilen die Billette zu nehmen. Die Transportkosten eines Pferdes von Straßburg nach Basel betrugen 42 Franken 50 Centimes, die Kosten für uns beide dagegen 15 Franken; also macht alles zusammen 100 Franken: ein Schlag in unsre Kasse, den wir später nur zu schmerzlich empfinden mussten. Es war die höchste Zeit, als Henninger in Begleitung des Hausknechtes die beiden Pferden brachte. Sie wurden in den Wagen geschafft, und da der Bahnzug im Begriff war, abzudampfen, so stieg ich ein, indes mein Begleiter bei den Pferden bleiben wollte.
Plötzlich höre ich mit einer furchtbaren Stimme meinen Namen rufen. Es war Henninger, der, ganz außer sich, nach seinem Gepäcke fragte. Ich konnte ihm natürlich keine Auskunft geben, da ich der sichern Meinung war, er habe es selbst besorgt, so wie ich das meinige. Diese Erklärung war das Werk eines Augenblicks: denn – ein Pfiff von Seiten der Lokomotive und noch ein Donnerwetter von Seiten Henningers, und der Zug setze sich in Bewegung.
Ich glaubte, Henninger sei nicht mitgekommen. Allein auf der nächsten Station rief er mir wieder; und da auf den französischen Bahnen alles wie der Wind geht, so hatte er nur so viel Zeit, mir zu verstehen zu geben, dass er zurück nach Straßburg wolle. Ihm Vorstellungen zu machen, war unmöglich; bis ich mich recht besinnen konnte, waren wir schon zwei oder drei Stationen weitergeflogen.
Nach und nach erkannte ich nun meine traurige Lage. Ich, der ich so wenig von Pferden verstehe wie ein Wilder in Nordamerikas Urwäldern von einem Telegrafen, ich war nun allein mit zwei jungen, mutigen Pferden, dreißig Stunden von meinem Begleiter entfernt. In welcher Stimmung ich daher in St. Louis anlangte, kann man sich leicht denken. Doch verlor ich den Kopf nicht. Ich ging auf das Zollbureau und zeigte den in Straßburg empfangenen Schein vor; denn ich dachte, es sei am besten, wenn ich meine fünfzig Franken wieder in der Tasche hätte. <<Montrez-moi les cheveaux!>> (Zeigen sie mir die Pferde!) sagte der Beamte. Ich erklärte ihm, dass sie im Wagen seien, und er möge nur einen seiner Dienstbaren Geister rufen, um diesen zu öffnen. Dies geschah. Das Signalement der Pferde wurde richtig befunden, ich erhielt mein Geld zurück, zugleich aber einen Gendarmen, der mich unverzüglich über die Grenze bringen sollte, da ich nach Empfang des Geldes keine Minute mehr im Lande bleiben dürfe. Ich wollte es daher zurückgeben, aber es half nichts; ich musste fort. <<Voici la frontière, Monsieur, adieu!>> (Hier ist die Grenze, mein Herr, adieu!) waren die trockenen Worte des mich über die Grenze eskortierenden bärtigen Blaufracks, als er mir den Rücken wandte und davonging.
Nach einiger Zeit erschien mein rettender Engel in der Gestalt eines schmutzigen Italieners, dessen Beine eine auffallende Ähnligkeit mit der Form eines O hatten. Ich glaube, ein gewandter Pudel hätte dazwischen durchspringen können, ohne im geringsten links oder rechts anzustreifen. Man sieht, „Undank ist der Welt Lohn“: ich mache mich lustig über jeden edeln, menschenfreundlichen Jüngling, der es so bereitwillig unternahm, für einen lumpigen Franken meine beide Pferde nach dem nicht weit entfernten Basel zu bringen. Wer beschreibt meine Freude, als wir endlich in der „Krone“ zu Basel anlangten, nachdem wir noch unterwegs viele Mühsale erduldet! Noch nie hab‘ ich lieber ein Trinkgeld gegeben, noch nie aber auch mehr geschwitzt als gerade an jenem Tage, der mir ewig unvergesslich sein wird! –

So war ich denn in dem alten, ehrwürdigen Basel, indes der gute Henninger noch meilenweit von mir entfernt war. Ich überließ ihn in Gedanken seinem Schicksal und war nur darauf bedacht, mich durch ein gutes Glas „Schwizer Wi“ nach den durchgemachten Strapazen und Mühsalen wieder zu restaurieren. Gelegentlich fragte ich den „vielgewandten“ Herrn Oberkellner, wann der letzte Bahnzug ankäme. Er sagte: „um neun Uhr“. Das waren also doch drei volle Stunden; denn ich war gegen sechs Uhr angekommen. Teils um einen Ärger über Henninger Luft zu machen, teils um nicht selbst zu trösten, schrieb ich einen Brief nach Mainz, worin ich die ganze Eisenbahngeschichte umständlich erzählte. Diesen Brief erwischte aber Henninger – der übrigens eingestand, einen dummen Streich gemacht zu haben – am andern Morgen, las ihn und erklärte mit großer Energie, er ließe mich ihn nicht abschicken; es sei durchaus nicht nötig, dass die Mainzer es wüssten. Ich sträubte mich zwar dagegen, aber vergebens. Ich musste am Ende nachgeben.
Doch wieder zurück zu jenem Abend, an dem ich allein war. Es war längst neun Uhr vorbei, Henninger war noch nicht da. Es wurde auch zehn Uhr, und noch erschien er nicht. Da ging mir denn endlich die Geduld aus. Ich eilte auch mein Zimmer und legte mich nieder. Ungefähr um halb zwölf Uhr wurde ich durch ein furchtbares Faustkonzert an meiner Türe geweckt. Ich öffnete: es war Henninger. Nun gab’s eine sonderbare Szene. Zehn Minuten lang räsonierte einer über den andern, und dann hätten wir uns vor Vergnügen darüber, dass wir uns so glücklich wieder getroffen hatten, beinahe umarmt.
Um nicht zu übergehen, muss ich nun auch die Erlebnisse meines Begleiters berichten, die er mir noch an jenem verhängnisvollen Abend erzählte. Wie schon bemerkt, blieb er auf der ersten Station zurück. Dort fragte er nach dem Weg nach Straßburg, um zu Fuß dahin zurückzugehen. Ein mitleidiger Müller gewährte jedoch, trotz seines eignen umfangreichen Körperbaues, den müden Wandrer einen Platz in seiner Kutsche. Aber unglücklicherweise war das nächste Dorf die Heimat des wohlbeleibten Samariters. Henninger musste also abermals des Schusters Rappen zu Hilfe nehmen, um nach Straßburg zu gelangen. Endlich kam er in dem Gasthof an, wo wir übernachtet hatten. Er erhielt daselbst noch richtig unversehrt seinen zurückgelassenen Manteljack, den ihm übrigens der Wirt, wenn er ihn nicht geholt hätte, mit dem nächsten Zug nachgeschickt haben würde. Aber damit war noch nicht alles abgemacht. Als Henninger in St. Louis angekommen war, wusste er nicht, ob ich an diesem Ort oder in Basel, ob in der „Krone“, im „Goldenen Kopf“ in der „Sonne“ oder irgendeinem andern der hundert Gasthöfe zu treffen sei. Ich hatte zwar dem jungen Italiener, der mir die Pferde geführt hatte, den Auftrag gegeben, sich bei Ankunft des letzten Zuges nach Henninger, dessen genaue Beschreibung ich ihm zu diesem Zwecke gemacht hatte, umzusehen; entweder musste er ihn aber verfehlt haben, oder er war gar nicht hingegangen. Kurz, Henninger ließ sich durch einen dienstbaren Geist nach Basel und daselbst in ein halbes Dutzend Gasthäuser führen, bis er endlich das Richtige antraf.