2. Mainz – Speyer – Die lange Reise beginnt

Kopie Reisebericht mit Foto Hermann

Am Sonntagmorgen, 12. Juni 2022, beginnt die Reise auf den Spuren von Hermann Gütlich. Ein Familienmitglied, das aufgrund seiner abenteuerlustigen Lebenseinstellung ein persönliches Testament in Form eines Reiseberichts von Mainz nach Mailand hinterließ und für mich eine Inspirationsquelle war, sein Abenteuer in moderner Form zu leben. Beim Anziehen meiner Fahrradtaschen fragen sich manche Hotelgäste, wohin ich mit all dem Kram gehe. Als ich mit „Mailand“ antworte und die von mir angefertigte Kopie des Reiseberichts zeige, die Hermanns Foto von 1860 trägt, sehe ich verschiedene Gesichtsausdrücke; Interesse, Staunen und Bewunderung bei zwei Männern. Ihre Ehefrauen wandten sich jedoch desinteressiert ab und gingen bereits zum Auto. Am Ende der Reise kehre ich in dasselbe Hotel zurück, damit sich der Hotelbesitzer mit einem Scherz von mir verabschiedet und sagt: „Bis bald“……

Ich habe das Hotel wegen seiner Lage ausgewählt. Wenn ich die Straße in südlicher Richtung hinunterfahre, bin ich sofort auf dem richtigen Weg nach Mailand. Vollgepackt und eingetütet starte ich langsam mein Rad mit 25 Kilo Gepäck und ein kurzer Schauer der Vorfreude durchfährt mich, weil die monatelange Vorbereitung auf die Reise nicht mehr zählt, sondern das Treten meinen Rhythmus für die nächsten Wochen bestimmen wird.

Es ist noch früh und die Sonne brennt schon gnadenlos auf mich nieder. Es wird ein warmer Tag mit einer Temperatur, die laut Meteorologen über 30 Grad Celsius steigen kann. Zum Glück erbarmt sich der Wettergott meiner und schickt mir eine schöne kühle Brise. Allerdings ist es Gegenwind, der meine Freude dämpft.

Exactissima Palatinatus ad Rhenum Tabula – Ioh. Batista Homan, Nernbergae (1710-1715)
Gerauer Land

Nach einer Stunde Radfahren erreiche ich einen Aussichtspunkt, von dem aus ich einen guten Blick auf den Ursprung unserer Familie werfen kann: das Gerauer Land! Das Gebiet erstreckt sich vom Zusammenfluss von Main und Rhein nach links bis in die Ferne nach Frankfurt am Main und rechts nach Darmstadt. Groß-Gerau liegt mitten in diesem Gebiet und die Familie Gütlich hat sich dort seit Ende des 16. Jahrhunderts niedergelassen und seitdem nicht mehr verlassen. Im Laufe der Jahrhunderte war seine Ausbreitung auf andere Gebiete begrenzt. Infolge der blutigen Schlacht während des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648) sind fast 90 % der Bevölkerung in diesem Gebiet durch Massaker von Soldaten, Kampfhandlungen und Krankheiten wie der Pest verschwunden. Um 1636 lebten in Groß-Gerau nur 10 Personen!

Ab 1640 lebte die Familie Gütlich nur noch in Groß-Gerau und im nahen Bauschheim. Sie waren Bauernfamilien und hielten natürlich an ihrem Land fest. Als das Land für alle Bauernsöhne nicht ausreichte, breitete sich die Familie ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nach Darmstadt und auch in die Niederlande aus und begründete so meinen Familienzweig.

Entlang des Rheins

Nach diesen Grübeleien über die Familienvergangenheit setze ich meinen Weg fort. Die Strecke nach Mailand ist geprägt von einer langen, teilweise kurvigen Straße entlang des Rheins. Ich wähle den „Rheinradweg“, eine Route entlang von Ufern und Deichen. Der Vorteil ist, dass zu dieser Jahreszeit wenig Geh- und Radverkehr auf der Strecke ist. Aber wegen meiner Abreise am Sonntag herrscht viel Freizeitverkehr, da muss ich aufpassen. Auffällig ist der massive Gegenverkehr. Ich vermute, das hat damit zu tun, dass sie alle lieber mit dem Wind nachbauen. Bei einem seltenen Zwischenstopp auf einer Terrasse frage ich meine Terrassenfreunde danach. Sie bestätigen dies und sagen, sie sollen mit dem Zug nach Hause fahren. Seit kurzem gibt es in Deutschland ein 9-Euro-Ticket für öffentliche Verkehrsmittel, um die steigenden Energiekosten aufgrund des Krieges in der Ukraine zu kompensieren. Diese Geschichte erzähle ich morgen auf meiner Etappe einem Mitradler aus Hamburg, der dann höhnisch sagt, dass die Züge seit der Einführung des günstigen ÖPNV-Tickets wie Viehwaggons aussehen……

Ziel für heute ist Speyer bzw. Spiers. Ich will die Reise langsam aufbauen, denn ohne Packen ist es meiner Meinung nach schon weit, aber mit Packen ist es schwer. Der steife Gegenwind und die hohen Temperaturen spielen mir einen Streich. Der entspannte Gegenverkehr mit Rückenwind im Blickfeld tut meiner Laune nicht gut.

Viele Fabriken sind entlang des Rheins angesiedelt, so dass die An- und Abfuhr von Rohstoffen problemlos erfolgen kann. Zuerst komme ich zu den Ludwigshafener Hafenwerken und den BASF-Werken. Die ganze Stadt setzt auf dieses Unterfangen, weil es viele Arbeitsplätze gibt. Das bedeutet aber auch, dass ich diese großen Werksgelände immer umfahren muss, anstatt geradeaus am Rhein entlang…

Speyer – Technik Museum

Nach Ludwigshafen ist es nur noch kurze Zeit bis Speyer auftaucht und ich mich endlich im Hotel am Technik Museum ausruhen kann. Rund um das Hotel schweben Jets, U-Boote, sogar eine Boeing 707 optisch in der Luft. Eine besondere Umgebung zum Übernachten und mit einem zufriedenen Gefühl über die erste, recht schwierige Etappe schlafe ich ein.