16. Abendreise nach Chiasso im Dunkeln

Damit stimmte ich natürlich nicht überein, sondern hielt es für das Beste, augenblicklich zu satteln und am nämlichen Abend noch nach Chiasso zu reiten. Nach vielem Widerstreben ging Henninger auf diesen Vorschlag ein. Dem Oberkellner wurden die zwanzig Franken wieder zurückerstattet, wir sattelten und waren etwa gegen sieben Uhr abends reisefertig. In dem Stalle schon bot mir ein kleiner Italiener, der aus Chiasso war und den Abend dahin zurückfuhr, einen Platz in seinem Chaisechen an. Ich hätte das Anerbieten gern angenommen, obwohl ich meine beide letzten Franken dafür hätte geben müßen, aber mein der Verzweiflung naher Reisegefährte hätte es nicht um die Welt zugegeben. Dieser alte, ausgediente hessische Krieger hatte nämlich eine ganz entschiedene Furcht vor den italienischen Straßenräubern. Er hatte wahrscheinlich einmal von dem kühnen Räuberhauptmann Rinaldo Rinaldini oder von irgend einem andern seines Gelichters gelesen; denn anders kann ich es mir nicht erklären, wie ein Mann, der noch dreimal so alt wie ich war, eine solche Angst an den Tag legen konnte.

Nach bereits eingetretener Dunkelheit machten wir uns also auf den Weg, und zwar, wie gewöhnlich, er zu Pferd und ich zu Fuß. Wir hatten auf Mondschein gehofft, aber der Himmel, der am Tage so freundlich gelächelt hatte, war mit schwarzen Wolken bedeckt, die kein Sternlein durchschimmern ließen. Die Chaussee war äußerst schmal. Rechts begrenzt von einer steilen Felswand, links von den Wellen des Luganer Sees bespült. Ich hatte wieder ein unangenehmes Geschäft zu verrichten. Da ist nämlich so dunkel war, daß man die Hand vor den Augen nicht sehen konnte, und die Pferde gewöhnlich bei einem solchen Nachtmarsche halb schlafen, so musste ich immer am Chausseerande hergehen und Henninger darauf aufmerksam machen, wenn es zu weit nach der linken Seite kam. An Geländer oder Steineinfassung wie auf dem Gotthard ist dort nichts zu denken; im Gegenteil sind oft Stücke von der Chaussee losgebrochen und in die Säge stürzt, so daß mir dieses auch leicht hätte zustoßen können.

Henninger in Panik

Zu dem allem fing’s auch noch plötzlich stark zu regnen an, so daß Henninger geradezu erklärte, er kehre wieder nach Lugano zurück. Das suchte ich ihm natürlich, so viel wie möglich, auszureden. Als wir ungefähr auf der Mitte der Brücke waren, die über den See führt, vernahm ich hinter mir das Rollen einer kleinen Chaise. Ich dachte mir, daß es der erwähnte Italiener von Chiasso sei, und nahm mir vor, mit ihm zu fahren; denn es war ja hinlänglich genug, wenn einer von uns nass wurde. Das Kütschchen kam näher, das kleine Italienerchen fuhr langsam an mir vorbei und machte mir den Vorschlag, für anderthalb Franken mitzufahren. Ich bot ihm einen Franken an und er war‘s zufrieden. Und ehe Henninger, der von dem ganzen Handel kein Wort verstanden hatte, sich‘s nur versah, saß ich neben dem kleinen Italiener ganz behaglich und trocken, die Beine mit einem warmen Teppich bedeckt. Aber aus dem Munde des ehemals großherzoglich hessischen Wachtmeisters ertönte nun ein Donnerwetter! Er nannte mich perfid und ehrlos, warf mir vor, ich stünde mit dem Italiener in Komplott, denn sonst hätten wir vorher nicht so leise zusammen gesprochen, und erklärte endlich, er würde, wenn ich nicht ausstiege, augenblicklich nach Lugano zurückreiten. Der Italiener wusste gar nicht, was dies bedeuten sollte, und fragte mich daher in einemfort: <<cos’ha dettó, Signore?, cos’ha dettó?>> (Was hat er gesagt?). Währenddem suchte ich Henninger, so gut wie möglich, zu beschwichtigen, wobei ich jedoch unglücklicherweise das Lachen nicht halten konnte, so daß das Ungewitter von Neuem losbrach. Um nun seine Angst auf einen andern Karren zu laden, versicherte er mich bei allem, was ihm heilig war, daß die Pferde zugrunde gingen, daß er sich selbst den Tod holen könne u. dgl. m., indes der kleine Italiener mit stoischem Gleichmut durch das Fensterchen im Rücken des Chaisechens blickend, jeden Augenblick ausrief: <<O, vanno bene i cavalli, vanno bene>> (Ei, die Pferde gehen gut, gehen gut).

Nach und nach fürchte sich Henninger in sein Schicksal, trabte unmittelbar hinter uns her, obgleich er stets entschieden erklärte, er wolle nach Lugano zurückreiten. Von Zeit zu Zeit ließ er ein „Donnerwetter“ oder „Himmelsakrament“ ertönen, worauf der Italiener, der es ihm bald abgelernt hatte, als Echo sein „Immelsakrament“ mit lautem Lachen hören ließ.

In Mendrisio erreichte die Sache ihren Glanz- und Höhepunkt. Dort wendet sich nämlich die Chaussee mitten in der Stadt gerade nach der entgegengesetzten Seite, so daß man glaubt, man käme wieder dahin, woher man gekommen ist. Dies war denn doch dem guten Henninger zu viel. Mit aller Energie, die ihm zu Gebote stand, sprengte er vor die Chaise, griff dem Pferd des Italieners in die Zügel und fing an zu fluchen, als wenn er‘s den Matrosen in jener Nacht von Mannheim abgelernt hätte. In der äußersten Erregung fragte er mich, ob ich denn so dumm und beschränkt sei, daß ich nicht einsähe, wie wir von dem Italiener an der Nase herumgeführt wurden, wie wären die Hände eines Gauners gefallen wären, der uns, Gott weiß wohin, vielleicht zu einer Räuberbande oder in eine Mörderhöhle bringen würde. Der Lärm war so groß, daß die alten Philister von Mendrisio in ihren Nachtkappen und mit Leuchtern in der Hand ihre Nase zum Fenster herausstreckten, und wenn ich nicht alle meine Beredsamkeit, die ich von Cicero und Demosthenes profitiert, aufgewandt hätte, so wäre der arme Henninger vielleicht noch gar wegen Nachtskandals von den Mendrisianern zu einigen Tagen Haft verurteilt worden. Ich werde diese Szene, sowie überhaupt jenen ganzen Nachtmarsch von Lugano nach Chiasso nie vergessen. Doch muss man dergleichen selbst erlebt haben, beschreiben lässt sich’s nicht. Soviel sei noch gesagt, daß ich endlich mit vieler Mühe und mit Anwendung einiger Überredungskunst, indem ich z. B. öfter sagte, Chiasso sei nur noch eine halbe Stunde entfernt, obgleich es noch viel weiter war, den fürchterfüllten ehemaligen Wachtmeister an das und uns vorgesteckte Ziel brachte.

Sein Zustand war nun auch bei seiner Ankunft daselbst in der Tat traurig. Das Wasser lief in Strömen an ihm herab, denn der Regen hatte immer mehr zugenommen, und nur mit Mühe konnte er, als ich im Albergo di San Michele (Gasthaus zum heiligen Michael) geklopft und der Hausknecht in Begleitung einer jungen, schönen Italienerin uns geöffnet hatte, vom Pferde heruntersteigen, weil ihm die nassen schweren Kleider am Leibe klebten. Die ganze Zeit hatte kein Wort gesprochen; erst als wir die Pferde im Stalle angebunden hatten, brach wieder ein solches Unwetter über mich herein, daß das schöne Fräulein, das noch zugegen war, Augen und Mund aufsperrte, und wenn sie Deutsch verstanden hätte, mich für den nichtswürdigsten Menschen hätte halten müssen. Henninger warf mir vor, ich habe ihn und die beiden Pferde zugrunde gerichtet und müsse nun alles verantworten. Dies war wahrhaftig keine kleine Last für ein jugendliches Gewissen. Endlich hatte der Sturm ausgetobt, wir begaben uns aufs Zimmer, wo uns ein großes italienisches Bett aufnahm. Henninger kehrte mir den Rücken zu und fing bald an, jenes entschiedene Schnarchen hören zu lassen; aber diesmal Ärger als je, da sein Grimm noch nicht gänzlich erloschen war.

Chiasso: Warten an der Grenze

Drei Tage lagen wir in Chiasso, zweihundert Schritte von der Grenze entfernt. Unsre Pferde waren gesund und munter; auch meinem liebenswürdigen Reisegenossen war die nächtliche Tour ganz gut bekommen. Aber trotzdem waren jene drei Tage die traurigsten, die wir auf unsrer ganzen Reise erlebten. Unsre Pässe waren zum alten General Singer nach Como geschickt worden. Wir hatten die Erlaubnis zu passieren, aber wie konnten wir Gebrauch davon machen, ehe wir unsre Rechnung bezahlt hatten? Gott weiß, wie viel Briefe ich während jenen verhängnisvollen drei Tagen schrieb! Von einem jedoch, den ich an den Grenzkommissär schrieb, muss ich genauer handeln. Dieser hatte mir nämlich gesagt, daß er seit einigen Wochen Deutsch lerne, und zwar nach Ollendorfs Grammatik. Als ich wieder auf sein Bureau kam, sah ich das Buch auf dem Schreibtisch liegen. Ich nahm es in die Hand, um es zu betrachten. Als ich es wieder hinlegte, warf ich einen flüchtigen Blick auf die umherliegenden Papiere. Das sprang aber der Kommissär mit einem wutentflammten Gesicht auf mich los und erklärte, er würde mich arretieren lassen, wenn ich mich nicht augenblicklich entfernte. In diesem Augenblicke nahm mich Henninger am Arm und zog mich aus dem Bureau. Damit erwies er mir einen großen Dienst. Denn hätte er das nicht getan, wer weiß, ob ich bei meinem furchtbaren Oppositionsgeist mich nicht kräftig verteidigt hätte, was mich noch teuer zu stehen gekommen wäre. In unserem Gasthaus schrieb ich nun an den Kommissär einen äußerst demütigen Brief, worin ich ihn um Verzeihung bat. Henninger brachte ihn auf das Grenzbureau, und so war die Sache in Güte beigelegt. Am dritten Tage glaubten wir von unserm Gasthofe aus zwei Husaren auf der Grenze zu sehen. Wir gingen hin, fragten und hatten uns nicht getäuscht. Sie waren vom 7. oder Reuß-Husaren-Regiment, demselben, worin mein Vetter stand. Ich fragte sie daher, ob sie diesen kennten. „Warum dos nicht? Er ist Jo der Rittmeister von unserer Schwadron.“ Ich fragte weiter, wo er stationiert sei, und erfuhr nun, daß er nicht in Mailand, sondern in Lodi lag. Die beiden Husaren selbst aber lagen mit ihrem Oberleutnant in Como, zwei Stunden von Chiasso, in Garnison. Ich ließ mir daher den Namen des Oberleutnants sagen, schrieb eilig einen Brief an ihn und übergab diesen den beiden Husaren, damit sie ihn möglichst bald besorgten. Dies geschah am Morgen, und schon kurz nach Mittag sahen wir zwei Reiter die Chaussee daher sprengen. Es war der Oberleutnant ein gewisser Gustav Baro, und sein Wachtmeister.