14. Faido – Bellinzona – Richtung Italien

Am andern Morgen wölbte sich wieder ein klarer freundlicher Himmel über uns; wir beschlossen deshalb, in einer Tour von Faido bis Bellinzona zu marschieren. Der Wirt machte mir den Vorschlag, eine Retourchaise zu benutzen, die im Begriff sei, nach Bellinzona abzufahren. So wurde ich denn zum erstenmale meinem Vorsatze untreu, ließ meinem Begleiter mit den Pferden vorausreiten, gab dem Posthalter die vereinbarten vier Franken und setzte mich dann mit leichtem Herzen und leichtem Geldbeutel in den alten Kasten, dem sie den Namen eine Postchaise gaben. Damit war aber meine erschöpft; denn von unserm gesamten Gelde, das noch etwas über neun Franken betrug, hatte ich fünf meinem Begleiter für den Fall der Not, und nun vier dem Postmeister für seinen alten Rumpelkasten gegeben. Dabei war Mailand noch mehr als zwölf deutsche Meilen entfernt.

Mein Kutscher war ein alter Italiener von blassem und hagerem Aussehen. Ein alter zottiger Hut war tief in seine gefurchte Stirne gedrückt, ein abgeschossener Sammetwams hing nachlässig über seinen Schultern und sein vorn offenstehendes Hemd, woran ebenfalls keine Farbe mehr zu erkennen war, ließ einen äußerst unappetitliche Brust durchscheinen. Soviel ich mich erinnere, waren auch seine Beinkleider von abgeschossenem violetten Sammet; ob er Stiefel oder Sandalen anhatte, weiß ich nicht mehr.

Ein solches Individuum war nun leicht imstande, mich um ein Trinkgeld anzusprechen; doch ich war, wie schon bemerkt, nicht in der Lage, eines geben zu können. In meiner Verlegenheit sah ich mich nach Henninger um. Der aber war, soweit das Auge reichte, nicht zu erblicken, so daß ich zuletzt noch auf den schrecklichen Gedanken kam, er sei bei seinem so schlecht ausgebildeten Ortssinn, statt von Faido nach Bellinzona, wieder zurück nach Airolo geritten. In meiner Verzweiflung zog ich das Chaisekissen weg spürte dabei an meiner Hand einen kleinen runden Körper, der in der Spalte verborgen lag. Die Sache wurde genauer untersucht, und es kam zu meiner größten Freude ein Viertelfrankstück zum Vorschein. Dies sich anzueignen, wäre nun freilich, sowohl nach Ciseros Officien, als auch nach den Lehrer des Confucius und der Heiligen Schrift ein Diebstahl gewesen; allein ich beschwichtigte mein Gewissen, indem ich mir sagte, daß der alte Italiener vielleicht erst in einem Vierteljahr die Münze gefunden haben würde, und so bekam er sie entschieden früher; demnach hatte ich ihm und zugleich mir einen Gefallen getan.

Mit leichterem Herzen fuhr ich nun an den Ufern des ruhig fließenden Tessins vorüber, an Rebenhügeln und grünenden Wiesen, die der milchweiße Staub des von den Höhen stürzenden Wassers benetzte. Da machte ich mein sammetgekleideter Kutscher plötzlich halt, der Schlag öffnete sich, ein jenem ähnlichen Wesen stieg ein und setze sich neben mich. Ich fragte den neuen Ankömmling, wohin er wollte u. dgl. m. und erfuhr, daß er glücklicherweise im nächsten Orte wieder aussteigen würde. Nicht lange, so gelangten wir auch dorthin. Es war Bodio, jenseits der Sassi Grossi gelegen, ein ziemlich unbedeutender Ort. Mein Wagenlenker hielt vor einer kleinen Kneipe still, um die Pferde zu füttern und wahrscheinlich auch einmal zu sehen, was für Leute in der Wirtstube wären. Ich erkannte durch die Fensterscheiben mehrere Italiener, die mit dem beliebten Moraspiel beschäftigt schienen, und dabei schrien, als ob sie es ihnen bezahlt würde. Nach halbstündigem Aufenthalt ging’s weiter; ich sagte meinem alten Graukopf, er solle ein wenig schnell fahren, denn es beunruhigte mich immer mehr, daß wir meinem Begleiter noch nicht eingeholt hatten, obwohl wir immer in Trab fuhren.

Nun merkt man, daß Italien nicht mehr weit sein kann. Man kommt durch das herrliche Rivieratal, durch das die Flüsschen Tessin, Blegno und Mëosa ihre bläulichen Wellen tragen, worin unzählige Rebstöcke, Kastanien-, Feigen- und Maulbeerbäume ihre Früchte und Blätter betrachten. Dort sind aber die Wingerte anders wie bei uns. Auf einer großen Fläche sind in regelmäßiger Ordnung mannshohe Pfähle eingeschlagen und durch Flechtwerk verbunden; darüber hin ziehen sich die Reben. Wie schön nimmt sich das aus, wenn man in diesen dichtbelaubten Gängen einhergeht, während einem über dem Kopfe die herrlichsten Trauben schweben!

In Biasca, einem eine Stunde von Bodio entfernten Orte, öffnete sich wieder den Kutschenschlag und ein anderes Individuum stieg ein. Ich sah‘s ihm am gemütlichen Gesicht an, daß es ein Deutscher sein müsse und hatte mich auch nicht darin getäuscht. Da vergaß ich denn auf ein Zeitlang Kummer und Sorgen. Leider stieg aber der gemütliche Landsmann in Osagna, wo er Geschäfte zu machen hatte, wieder aus.

Nun ging’s Bellinzona immer näher, am Berge Claro, dem Kloster Castiglione und dem kleinen Ort Arbedo vorbei, und endlich fuhren wir durch ein hohes steinernes Tor in die Hauptstadt des Kantons Tessin ein. Im Albergo dell‘ Angelo (Gasthaus zum Engel) wollte ich Henninger treffen. Wir fuhren vor, ich stieg aus, der alte Italiener im abgeschossenen Sammetwams nahm seinen Viertelfranken und einige Centimes, die letzten der Mohikaner, im Empfang. Dann ging ich in den Stall, und siehe, da stand schon Henninger und freute sich darüber, daß unsre Pferdchen einen so guten Appetit mitgebracht hatten, obwohl er sie schon einmal unterwegs hatte füttern lassen. Dafür hatte er zwei Franke gegeben; also blieben ihm noch drei.

1850 – Bellinzona

Ein Deutsches Bierhaus

Der Mensch ist oft dann gerade am leichtsinnigsten, wenn Überlegung und ernstes Handeln am ratsamsten wären. Wir hatten kaum gehört, daß ein deutsches Bierhaus wenige Schritte von unserm Gasthof entfernt wäre, als wir uns schleunigst dahin zum Signore Meier und seiner wohlbeleibten Ehehälfte begaben. Ach, wie sind doch die Schweizer Schoppen so klein! Zum Bier wurde auch ein wenig gefrühstückt, damit alles in einem Bankerott hingebe, und so waren wir denn in kurzer Zeit so arm wie eine Kirchenmaus. Dies war den Grund genug, einmal auf die Post zu wandeln und zu fragen, ob kein Geld für uns angekommen sei. Zu unserm Schrecken war das nicht der Fall. Henninger war so niedergeschlagen und in einen solchen Weltschmerz versunken, daß er auf dem ganzen Wege von der Post bis in unser Gasthaus halblaut vor sich hin brummte: „Was soll ich nun beginnen in meiner Traurigkeit? usw.“ Und damit er nicht gänzlich, zum Hypochonder wurde, sang ich dazwischen: „Ist kein Geld in Bänken, ist doch Pump in Schenken, immer geht’s in dulci jubilo“. Wieder in unserm Gasthaus angelangt, sannen wir auf Rat und beschlossen, noch vierundzwanzig Stunden zu warten, und, falls nach Verlauf dieser Frist kein Geld aus Mailand eingetroffen sei, den Hausknecht Peter aus dem Albergo dell‘ Angelo, der als geborener Schwabe ein Landsmann von uns war, anzupumpen gegen Verpfändung meiner silbernen Zylinderuhr mit goldenem Rande im Wert von sechzig bis siebzig Franken.

Mit Erleichtertem Herzen ging’s nun zum Nachtessen, wobei mir etwas auffiel, das ich vorher noch nicht gesehen hatte. Es wurde nämlich ein Teller voll geriebenen Schweizerkäses auf die Tafel gestellt, der, wie ich später merkte, im Kanton Tessin und zum Teil auch in Oberitalien die Stelle des Gewürzes vertritt. In jeder Speise muss von diesem Surrogate sein, in der Suppe sowohl wie im Gemüse und beim Fleisch, sonst schmeckt‘s dem Tessiner nicht; ich sah sogar, wie einer davon in seinem Wein warf.

Nach dem Nachtessen begaben wir uns wieder ins deutsche Bierhaus. Unser Landsmann Peter sollte auch mitgehen; denn obgleich er nur Hausknecht war, erblickten wir doch in ihm unsern rettenden Engel, und in einer Lage wie der unsrigen musste man wohl auch einen Hausknecht scharmieren. Die ehrliche Haut war aber noch im Stall beschäftigt, versprach jedoch alsobald nachzukommen. Jetzt ging’s denn an den allerletzten Rest der drei Franken, und der alte Signore Meier sah es mit Verwunderung, wie so noble Herren wie wir ein Centimestück nach dem andern aus den verschiedenen Taschen hervorsuchten. Es dauerte nicht lange, so ging die Türe auf und unser ehrlicher Peter in seinem blauen Kittel trat herein. Er setzte sich zu uns und zog einen mächtiges Stück Schweizerkäse, das zum wenigsten anderthalb Pfund wog, hervor. Dazu ließ er sich Brot geben und behandelte dieses nun nach unsern Begriffen als Käse, d. h. er aß das Brot zum Käse und nicht, wie wir, den Käse zum Brot. Das kam uns ganz sonderbar vor, und wenn wir noch die kleinen Schöppchen betrachteten, auf die Signora Meier auch noch zum Überflusse – trotz allen Bierbrauern unsrer lieben Ludovicia – einen zweifingerbreiten „Feldwebel“ zu drehen, verstand, so schien uns der Kanton Tessin ein gar kurioses Land zu sein.

Als das pausbackige Töchterchen des deutschen Bierbrauerehepaars den letzten unsrer Centimes in Empfang genommen hatte, war es für uns an der Zeit zu gehen, zumal der alte Signore Meier, der zwar immer das eine Auge zudrückte und in dieser Beziehung zu den Nachsichtigen gehörte, durchaus kein Freund vom Pumpen war.

Bellinzona: Hermanns Uhr verpfändet

Unser erster Gang am nächsten Morgen war auf die Post; aber ach, er war wiederum vergeblich. Obwohl die anberaumte Frist noch nicht verstrichen war, gingen wir in unser Gasthaus mit dem Vorsatze zurück, den alten Peter aufs Zimmer zu zitieren. Und dies geschah auch. Der ehrliche Blaukittel machte zwar große Augen, als wir ihm sagten, wie die Sachen standen, zeigte sich jedoch gleich bereit, uns ungefähr vierzig Franken zukommen zu lassen, indem er sehr bedauerte, daß er uns nicht mehr geben könne, da er erst den Tag vorher seinen halbjährigen Lohn auf die Sparkasse getragen hatte. Wir mussten uns also damit begnügen, gingen mit Peter in seine Kammer, wo er auch richtig aus einer großen alten Kiste zwei Napoleons hervorbrachte und mein liebes Uhrchen dafür hineinlegte. Noch einen sehnsüchtigen Blick warf ich darauf; ach, es war vielleicht der letzte! Dann schloss sich der gewaltige Deckel über ihm, und unser Geschäft war abgemacht.

Was konnten wir mit vierzig Franken viel anfangen? Wir beschlossen deshalb, da das Geld mit der Post immer noch kommen konnte, noch einen Tag in Bellinzona zu bleiben.