11. Wasen – Airolo – Über den Gotthardpass

Trotz dieses Mangels fanden wir doch am andern Morgen großen Überfluss in der Rechnung, die uns die Frau Wirtin zustellte. Denn der Hausherr war auf dem Viehmarkt zu Altdorf, und die gewissenhafte Ehehälfte wollte ihm wahrscheinlich bei seiner Rückkunft zeigen, daß sie das Haus gut verwaltet und zwei Fremden die Haut über die Ohren gezogen hatte. Zu unserm großen Schrecken merkten wir schon damals, wie sehr unsre Kasse im Abnehmen war. Wir berechneten genau den Weg, den wir noch zurückzulegen hatten, und fanden, daß wir gewaltige Märsche machen mussten, um nicht die gänzliche Aufreibung unserer Barschaft sehen zu müssen.

1860 - Teufelsbrücke
1860 – Die alte und neue Teufelsbrücke

Eine Stunde von Wasen liegt Göschenen. Hinter diesem Ort nimmt das Reußtal den wildesten Charakter an. Mächtige Granitfelsen auf beiden Seiten bilden den Engpass der Schöllenen. Tief unten in der Schlucht, die die Sonne nur in ihrem höchsten Stande erreicht, rauschen die Wogen der Reuß mit solchem Gepolter und Lärm über die Felsen hin, daß jener Ort das „Krachental“ genannt wird. An der gefährlichsten Stelle ist eine Galerie in die Felsen eingehauen, über deren Eingang Wappen und Namen von Uri zu sehen ist. Hat man diese passiert, so erreicht man die berühmte Teufelsbrücke. Ehe man aber das Naturschauspiel betrachtet, tut man wohl, den Hut recht fest zu setzen; denn dort wohnt der „Hutschelm“, wie die Leute sagen, und mancher, der mit weitaufgerissenen Augen den Wasserfall bewunderte, war schon außer sich vor Erstaunen, als sein Hut denselben Salto Mortale (Todessprung) wie das Wasser über die Felsen in die Tiefe machte. Die Reuß stürzt nämlich dort an hundert Fuß in die Felsschlucht hinab, und so schroff ist ihr Fall, daß der Wasserstaub aus der Tiefe sich weit über die Brücke erhebt. Diese besteht aus einem einzigen Bogen von fünfundzwanzig Fuß Weite; sie wurde im Jahre 1830 erbaut, und zwar zwanzig Fuß höher als die ältere, die man stehen ließ, obgleich sie nicht mehr benutzt werden kann.

1790 - Säumerkolonne - Urnerloch - St. Gotthard
Urner Loch
1832 - Hospital

Kaum hat man die Teufelsbrücke verlassen, so gelangt man an das Urner Loch, einen 180 Fuß langen Tunnel, der sechzehn Fuß breit ist, so daß sich zwei Wagen bequem ausweichen können. Kaum hat man den ersten Schritt auf diesem Felsrevier getan, so hat man einen durch den Kontrast überraschenden Anblick. Eben war noch man noch mitten in Felsen und Wasser; jetzt sieht man plötzlich wieder in einer Höhe von viertausend Fuß die schönsten Wiesen, von der Reuß durchströmt, und am Bergabhang liegt der alte Ort Ursern (Orsera) oder Andermatt und weiter davon, unmittelbar am Fuße des Gotthards, das Dorf Hospenthal oder Hospital. Dort stärkten wir uns durch ein Glas Wein, die Pferde durch Hafer, und traten nun die eigentliche Gotthardstraße an, die überall eine Breite von zwanzig Fuß hat; Ihr Fall ist bei hundert Fuß nie mehr als fünf. Obwohl feste und sichere Brücken über die Abgründe führen, und die Straße nach der Tiefe hin mit Steinen eingefasst und besetzt ist, so ist doch die Übersteigung des Gotthards, zumal im Winter und Frühling, keineswegs gefahrlos. An manchen Stellen, besonders am südlichen Abfall nach Airolo hin, liegt oft der Schnee vierzig Fuß hoch. Und gerade an dieser Stelle ist die Straße so sehr von Lawinen bedroht, dass fast kein Jahr vergeht, ohne daß mehrere Menschen dort ihren Tod finden. Beinahe wäre es mir ebenso gegangen. Auf der Mitte der Straße zwischen Hospital und dem Hofpiz liegt nämlich ein Stationshaus an der rechten Seite, links aber führt ein Seitenweg durch das Tal, bald am rechten, bald am linken Ufer der Reuß sich schlängelnd, vom einen Teil des Berges zum andern hinüber, indes die Chaussee weit um Abhänge herumführt. Dieser Weg schien mir damals so gefahrlos, daß ich ihn ohne weiteres einschlug, obwohl ich mir nach meinen übeln Erfahrungen auf den Hauenstein vorgenommen hatte, niemals mehr abzuschneiden. Henninger blieb mit den Pferden auf der Straße.

Selbstüberschätzung fast tödlich

Im Anfang ging es recht gut; Ich musste zwar mehrmals über die Felsen der Reuß springen, von einem Ufer zum andern, aber das war doch immerhin noch der Weg zu unterscheiden, der mir ein Überbleibsel der alten Gotthardstraße zu sein schien. Allmählich verlor sich der Weg; große mit Moos bedeckte Felsen, über die vom Berg herab reichliches Wasser rieselte, umgaben mich rings. Zuletzt erhob sich rechts eine hohe Felswand; ein ganz schmales mit kleinen, leicht hinabrollenden Steinen bedecktes Pfädchen führte längst an ihr hin, und links stürzte in bedeutender Tiefe die Reuß mit furchtbarem, betäubendem Gepolter über die Felsen. Ein Fehltritt und es wäre um mich geschehen gewesen; zweimal balancierte ich auf dem äußersten Rande, und da der Pfad immer schmaler, die Felswand höher und der Abgrund tiefer wurde, so fing ich schon an, mich mit Horazischer Philosophie ins Unvermeidliche zu schicken, in dem ich halblaut von mir vor mir hinsagte:

…“omnes una manet nox

Et calcanda semel via leti….

……. Nullum

Saeva caput Proserpina fugit.”

        (……”Aller warte eine Nacht,

Einmal betreten wir des Hades Schwelle;

Kein Haupt verschont der Zorn Proserpinas.“

                                                               Horaz, Oden I, 28.)

aber zur rechten Zeit fiel mir der virgilische Vers ein:

„Tu ne cede malis, sed contra audentior ito.“

(„Weiche dem Unheil nicht, sondern kühner geh‘ ihm entgegen.“

                                                               Virgil, Aeneis VI, 95.)

und indem ich allen meinen Mut und meiner Kräfte zusammennahm, gelangte ich glücklich auf die Chaussee und war gerettet.

Henninger hatte schon die Strecke auf der Straße oben zurückgelegt. Als er vollends herankam, machte ich aus einem Häuschen Schnee, das ich neben einem Felsen, gleichsam als Vorläufer liegen sah, einen Schneeball und warf ihn in die Luft, um jenem anzudeuten, daß die Schneeregion bald eintreten würde. Dann erzählte ich ihm, in welcher Gefahr ich geschwebt hatte; er machte mir heftige Vorwürfe über meinen Leichtsinn und beschloss, mich von nun an nicht mehr von seiner Seite zu lassen.

Die Spitze erreicht

Der Schnee, der anfangs nur in zerstreuten Haufen auf den umliegenden Felsen zu erblicken war, nahm immer mehr zu, und zuletzt sahen wir uns von einer einzigen weißen Fläche umgeben. Auf der Straße aber wird so lange wie möglich Bahn gehalten, weil die Post täglich darüberfährt. Mit dem Schnee nahm auch die Kälte zu; doch empfindet man sie nicht so sehr, da sie allmählich zunimmt, je höher man steigt. Nach einem zweistündigen Marsch hatten wir die Spitze des Berges erreicht, auf der das Hofpiz liegt: ein festes und ziemlich geräumiges Gebäude mit guten Stallungen, fünfzehn Betten für Reisende und andere Bequemlichkeiten. Mönche sind nicht mehr oben. Ein geistlicher besitzt die Wirtschaft und betätigt seine christliche Liebe dadurch, daß er arme Reisende nichts bezahlen lässt.

Es macht einen sonderbaren Eindruck, mitten in dieser Einöde und Wildnis auf einmal ein solches Treiben und Leben zu sehen. Mehr als zwanzig Fuhrleute und eine Menge von Pferden konnten wir dort sehen, so daß wir kaum noch Platz für unsre Tiere fanden. Wir hatten an jenem Tag noch nichts gegessen und kauften uns deshalb bei dem Wirte etwas Schweizerkäse und Brot und zum Schutze gegen die Kälte auch eine mezza bottiglia di vino (eine halbe Flasche Wein) – denn dort spricht man schon italienisch. Der Wein war essigsauer, der Käse aber um zu besser.

Der Abstieg zu Airolo

Nachdem ich mich gestärkt, ging ich wieder hinaus, um mich umzusehen. Aber nicht lange, denn die Temperatur ist durchaus nicht angenehm dort oben. Unsre Pferde empfanden es auch. Als wir sie nämlich aus dem warmen Stalle plötzlich wieder in die Kälte führten, da fingen sie an, wild zu werden, mit allen Vieren auszuschlagen; und wenn sie das Geräusch eines Wasserfalles hörten, deren es dort unzählige gibt, so ließen sie sich kaum halten. Wir waren deshalb genötigt, sie fest am Zaum zu führen. Dazu kam noch ein dichter Nebel, der sich auf unsere Kleider setzte, und auf der Haut ein unangenehmes Frösteln verursachte. Wir hatten kaum den Tessin überschritten, der, wie die Reuß auf der andern Seite, im polternden Sprüngen vom Gipfel herabstürzt, als wir das donnerähnliche Getöse einer in die Tiefe fallenden Lawine vernahmen, ein Zeichen, daß wir dem schauerlichen und äußerst gefährlichen Val Tremola oder Trümmelntal nahe waren. Man gelangt dahin, in sechsundvierzig Windungen und vier Stollen, und wer diesen Ort passiert hat, kann sicher und ohne Gefahr weiterziehen. Wie gefährlich er aber selbst ist, geht schon daraus hervor, daß in jedem Buche über die Schweiz dem Reisenden geraten wird, jedes Geräusch, wie das Schellen der Pferde, das Singen, ja sogar das Sprechen zu vermeiden, um sich so schnell wie möglich wieder fortzumachen.

AiroloHintergrund Val Tremola

Als wir nun wieder tiefer herabkamen, hörte zwar der Nebel auf; aber das fing an, zu regnen, und es war leider ziemlich trüb, sodass wir die Aussicht auf das Tessintal und die Schneeberge nicht so genießen konnten, wie wir es wünschten. So kamen wir denn endlich nach einem bedeutenden Tagemarsch ziemlich spät abends nach Airolo, dem ersten italienischen Dorfe des Kantons Tessin. Wir kehrten in der „Post“ ein. Da der Hausknecht in einem Zustande war, worin er alles Gefühl für das statische Moment verloren hatte, mussten wir unsre Pferde selbst besorgen, doch waren wir trotzdem sehr froh, unter Dach und Fach zu sein.

Da unsre Barschaft ihrem Ende nahe war, schritten wir, am knisternden Feuer des Kamines sitzend, zu einer ernsthaften Beratung, auf Grund deren wir es für das Beste hielten, unverzüglich an den Vetter nach Mailand zu schreiben, und zwar einen rechten Brandbrief, damit er uns umso schneller wieder auf die Beine helfe. Dies wurde auch sogleich von mir ins Werk gesetzt: denn mein Begleiter Henninger hatte, obgleich er einst Wachtmeister bei den hessischen Chevaulegers gewesen, „wenig Luft an dergleichen“, wie er sich ausdrückte. Übrigens schrieb ich den Brief in seinen Namen, denn mein Vetter wusste nichts davon, daß ich mitkäme. Den in dem Schreiben erbetenen Unterstützungsfonds wollten wir in Bellinzona postlagernd in Empfang nehmen.

Der ersten Brief nach Hause

An demselben Abend schrieb ich auch zum ersten male in die teure Heimat, was ich eigentlich schon längst hätte tun sollen. Bei meiner Abreise von Mainz hatte ich meinen dortigen Verwandten den Auftrag gegeben, meinen Eltern, sobald ich glücklich auf dem Dampfboot wäre, die Hiobspost meines kühnen Unternehmens zu melden. Dies war aber, wie ich nach meiner Rückkehr erfuhr, nicht geschehen, und so erhielten sie denn, lange zwischen Furcht und Hoffnung schwebend, von Airolo aus diesem ersten Brief, worin ich sie zu trösten und zu beruhigen suchte, da ich ja jetzt, nach Übersteigung des Gotthards, ganz außer Gefahr wäre und wohlbehalten wieder nach Hause kommen würde. Da es damals der 16. Oktober war, und ich wusste, daß am Tage der großen Völkerschlacht meines Vaters Geburtstag war, so versäumte ich denn nicht zum Schlusse, gleichsam als captatio benevolentiae meine Gratulation beizufügen; denn ich dachte: Ende gut, Alles gut.